Erziehungsratgeber

Fluch oder Segen?

Ich bin das, was man einen Büchermensch nennt. Es vergeht kein Shopping-Trip, bei dem ich nicht irgendwann in einer Buchhandlung ende und „Bücher streichle“, wie Kind Nr. 2 das einmal treffend und ein wenig vorwurfsvoll formuliert hat. In der Regel halte ich mich dann bei der Belletristik oder den Kinderbüchern auf, seltener bei Reise- oder Kochbüchern. Das hat nichts damit zu tun, dass ich ungern reise oder koche – ganz im Gegenteil, ich liebe beides – sondern eher damit, dass Reiseführer und Kochbücher meistens in der gleichen Ecke zu finden sind wie die Ratgeber-Literatur. Und die mag ich nunmal gar nicht. Einerseits.
Was es da nicht alles gibt: Von Apfelessig bis Feng Shui, von Esoterik bis Meditation, von Feminismus im Alltag bis Yoga in der Pause – kein Thema, für das sich noch kein tatsächlicher oder vermeintlicher Experte gefunden hätte, der darüber unbedingt einen Ratgeber mit „echten und praxisnahen Insidertipps“ schreiben müsste.

Lieblingsthema für Ratgeber-Autoren ist natürlich die Kindererziehung. Liegt ja auch nahe, denn schließlich hat nun wirklich jeder dazu eine Expertenmeinung. Egal, ob man selbst Kinder hat, oder das Konzept Familie nur vom Hörensagen kennt, man war ja schließlich selbst mal Kind und fühlt sich daher grundsätzlich befähigt, qualifizierte Statements zu diesem Themenkomplex abzugeben. Kennen wir alle aus dem Alltag.

Früher oder später stehen wir Eltern also alle mal vor den gefühlt 50 Regalmetern Erziehungsliteratur, die uns weismachen wollen, dass sie das Patentrezept für die Lösung unseres aktuellen Problems kundenfreundlich zwischen zwei Buchdeckel gepresst haben. Ganz egal, ob der Mini nicht schlafen, nicht essen, nicht lesen, nicht spielen, nicht reden, nicht in die Kita, nicht in die Schule oder was auch immer nicht will, für dieses Problem gibt es einen in der Regel auf den ersten fünf Seiten schnell erklärten Grund (Fehlverhalten der Eltern, was sonst). Auf den nächsten 250 Seiten folgt dann die Lösung, die offenbar nicht ganz so schnell erklärt ist. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass man das Buch ja schließlich mit Inhalt füllen muss, sonst bräuchte man es gar nicht erst schreiben.

Wie gesagt, ich hasse solche Bücher. Einerseits. Andererseits komme auch ich, wie jede andere Mutter, öfter mal an die Grenzen meiner Weisheit. Und noch öfter an die Grenzen meines Nervenkostüms. Daher bin auch ich natürlich nicht immun gegen die Verlockungen vermeintlich einfacher Lösungen.

Leider halten sich meine positiven Erfahrungen mit Erziehungsratgebern allerdings in engen Grenzen. Man könnte auch sagen, es gibt keine.
Ein Beispiel: Kind Nr. 1 bekam von mir als Kleinkind vor dem Schlafengehen immer noch eine Milchflasche, dann wurden Zähne geputzt, und dann setzte ich mich mit ihm auf dem Arm in einen Sessel im Kinderzimmer, wartete, bis er einschlief und verfrachtete ihn dann behutsam in sein Bett. Irgendwann hatte das schlaue Kind allerdings raus, dass Mama auf jeden Fall so lange dableibt, bis es einschläft. Also hat es das Einschlafen so lange hinausgezögert, wie es irgendwie ging. Oft saß ich abends zwei bis drei Stunden mit ihm da. Ergebnis: Keine Freizeit, keine Zeit zu zweit. Und alle jungen Eltern wissen, das die Stunden zwischen dem Zubettbringen des Kindes und dem eigenen Schlafengehen die einzigen sind, in denen man mal Zeit füreinander hat.

Es musste also eine Lösung her. Folglich kaufte ich mir den Klassiker „Jedes Kind kann schlafen lernen“ (wird hier nicht verlinkt, weil ich das Buch ausdrücklich nicht empfehlen kann). Ich las das Buch und bekam Zweifel. Angeblich lernte jedes Kind schlafen, wenn man es wach ins Bett legte, ihm liebevoll Gute Nacht wünschte und dann das Zimmer verließ. Sollte das Kind wider Erwarten (!) anfangen zu weinen, sollten Eltern einige Minuten warten, dann wieder hineingehen, das Kind beruhigen – ohne es auf den Arm zu nehmen – und wieder rausgehen. Diesen Prozess sollte man so lange wiederholen, bis das Kind einschlief.

Wie gesagt, ich hatte Zweifel. Aber wir probierten es trotzdem. Wie erwartet, begann der Kleine zu weinen, sobald ich das Zimmer verließ. Das steigerte sich in den nächsten zwei Minuten zu einem infernalischen Gebrüll. Offenbar litt er Höllenqualen, und mir ging es nicht anders. Ich ging wieder rein, beruhigte ihn, ohne ihn hochzunehmen, ging wieder raus. Das ganze ging dann noch über eine halbe Stunde. Immer wieder schaffte ich es, ihn leidlich zu beruhigen, immer wieder brüllte er los, wenn ich ihn verließ. Und dann war Ruhe. Er war vor lauter Erschöpfung mitten im Weinen eingeschlafen. Ich setzte mich aufs Sofa und heulte nun selbst erstmal los.

Am folgenden Abend war ich darauf gefasst, dass sich das Szenario wiederholen würde, aber zu meinem großen Erstaunen ließ er sich anstandslos ins Bett bringen.

Man könnte also meinen, das Konzept des Buches wäre aufgegangen. Das Kind ging pünktlich schlafen, wachte morgens zu einer normalen Uhrzeit auf und dazwischen war Ruhe. Mein Mann und ich wähnten uns bereits im Elternparadies.

Doch jetzt kommt der Haken: Kind Nr. 1 war bis zu diesem Zeitpunkt eine echte Schmusebacke. Er wollte immer auf den Arm, auf den Schoß, kuscheln und Küsschen geben, konnte nie genug Nähe bekommen.

Seit diesem Horror-Abend lässt mein Kind keine Nähe mehr zu. Keine Umarmung, kein Trösten, kein Kuscheln. Wenn ich die Kinder abends ins Bett bringe, darf ich ihm über den Kopf streicheln. Das ist aber auch alles.

Von daher ist mein Misstrauen gegenüber Erziehungsratgebern wohl nicht weiter verwunderlich. Mein Rat an Euch: Lasst die Bücher links liegen und vertraut auf Euren Instinkt als Eltern. Wenn der Nachwuchs abends ohne Mama und Papa nicht einschlafen will, dann legt euch einfach alle zusammen ins Bett und verschiebt die Zweisamkeit auf später. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass manche Probleme sich irgendwann von selbst lösen. Und wenn nicht, dann geht in Euch und findet den Ansatz, der zu Euch und Eurer Familienwirklichkeit passt. Familie wird nicht am Reissbrett geplant und funktioniert nie nach Schema F.

Und mit diesen Gedanken gehe ich jetzt in die Belletristik-Abteilung, Bücher streicheln.